1 Über Menschen
„Sie beharrt darauf, sich keine klare Meinung bilden zu müssen, wenn es keine einfachen Lösungen gibt, und die gibt es momentan noch weniger als sonst.“ (Zeh, 2022, S. 28) So lässt Juli Zeh ihre Protagonistin Dora in dem Roman „Über Menschen“ ihre Einschätzung zum Beginn der Corona-Pandemie beschreiben.
Mit diesem Zitat verdeutlicht Juli Zeh anschaulich, was Ambiguität im Kern ausmacht. Nach Bauer werden mit dem Begriff Ambiguität Zustände beschrieben, die als mehrdeutig oder weniger unterscheidbar gelten. Sie sind vage und Zustände, mit denen wir uns als Menschen permanent auseinandersetzten müssen (Bauer, 2018).
Diese Auseinandersetzung erscheint aber als Zumutung und die notwendige Ambiguitätstoleranz wird in den Lebensbereichen der Gesellschaft geringer. Menschen streben nach Eindeutigkeit und die notwendige Ambiguitätstoleranz ist scheinbar nur begrenzt ausgeprägt. Der Wunsch nach Eindeutigkeit macht das Leben sicherlich einfacher, aber er reduziert die Vielfalt (Bauer, 2018).
2 Über Eindeutigkeit oder die latente Gefahr der Blindheit
Menschen unterscheiden sich in ihrer jeweiligen Ambiguitätstoleranz, ähnlich wie im transaktionalen Umgang mit Stress (Lazarus & Folkman, 1984). In Organisationen haben Führungskräfte deswegen die Aufgabe, im Rahmen der allgemeinen Sorgfaltspflicht, die psychologischen Einflüsse der MitarbeiterInnen und die Umwelt im jeweiligen System des Unternehmens zu berücksichtigen und aktiv zu gestalten. Hierdurch tragen sie bei, die Ambiguitätstoleranz nicht nur zu fördern und zu stärken. Ambiguitätsintoleranz und das Streben nach Eindeutigkeit birgt eine große Gefahr: Wir verlieren die Vielfalt und werden im wahrsten Sinne des Wortes blind.
Diese “Blindheit” ist ein Zeichen von ambiguitätsintoleranten Systeme. So tendieren Organisationen beispielsweise dazu, Dinge, die nicht erkannt werden, als unwichtig zu betrachten oder ganz fallen zu lassen (Bauer, 2018).
Das zeigt sich beispielweise am Desinteresse für Politik. Das fehlende Interesse an politischen Themen und Fragestellungen kann ein Zeichen der Ambiguitätsverweigerung sein und verweist eventuell auf eine mangelnde Bereitschaft zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit politischen Fragestellungen oder der Politik im Ganzen (Bauer, 2018).
Aber Juli Zeh beschreibt in ihrem Roman „Über Menschen“ nicht nur die Situation zum Beginn der Corona-Pandemie als ein Beispiel für eine ambige gesellschaftliche Situation, sie lässt Dora gleich eine Antwort für eine mögliche Auflösung von Ambiguität geben:
„[…] der Mensch kann viel weniger begreifen und kontrollieren, als er glaubt. Auf dieses Dilemma kann weder Nichtstun noch Aktionismus die richtige Antwort sein. Nach Doras Ansicht geht es um Augenmaß beim Handeln und größtmögliche Ehrlichkeit in der Kommunikation. Voraussetzung von Ehrlichkeit ist das Bekenntnis zum Nicht-genau-Wissen.“ (Zeh, 2022, S. 28)
Damit sind hier schon die relevanten Handlungsfelder für einen möglichen Abbau von Ambiguität ausgemacht. Es geht im Wesentlichen um das eigene Handeln, unsere Haltung und die Wahrnehmung, im Sinne eines ‚Nicht-genau-Wissen‘, sowie den Kontext, in dem wir uns bewegen (vgl. Kozica & Haas, 2025).
3 Über das eherne Ambiguitätsenergieerhaltungsgesetz
Aber eine Warnung gleich vorweg: Das Auflösen von Ambiguität erzeugt neue und andere Formen der Ambiguität. So schafft das Auflösen der uneindeutigen Zustände nie die gewünschte Eindeutigkeit. Ambiguität lässt sich nicht vollkommen auflösen. Bauer spricht in diesem Zusammenhang von einem Ambiguitätsenergieerhaltungsgesetz:
„Je mehr Energie für die Beseitigung von Ambiguität aufgewendet wird, desto mehr Ambiguität entsteht im Verhältnis zur jeweils beseitigten Ambiguität.“ (Bauer, 2018, S. 76)
Uneindeutigkeit scheint also damit eine Zustand unserer Zeit zu sein. So müssen wir uns nach Zygmut Bauman (2016) damit abfinden, dass Ambiguität das Mittel der Moderne schlechthin ist, um unsere selbstverschuldeten und destruktiven Potenziale aufzulösen (Bauman, 2016).
Der SAP-Vorstand Thomas Saueressig stellt in einem Interview fest, dass Entscheidungen für ihn nie schwarz oder weiß sind und man mit dieser Ambiguität umzugehen lernen muss (Witte, 2024). Aber für bestimmte Menschen lösen sich diese Zustände nie auf, da sie Angst vor den Ungewissheiten der Zukunft haben und es ihnen am Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten fehlt (Morschitzky, 2009).
Ambiguität, Undurchschaubarkeit und Unwissenheit über zukünftige Entwicklungen und Paradoxien prägen den unternehmerischen Alltag. Lieb gewordene Gewissheiten lösen sich auf und es reicht nicht mehr aus, nur das „Bestehende zu optimieren”. Es gilt eine „Sowohl-als-auch“-Haltung durch Reflexion der eigenen „Wahrnehmung, Haltungen und Handlungen sowie den Kontext“ einzunehmen (Kozica & Haas, 2025).
4 Über inhärente Manager und die kognitive Komplexität
Es werden also ambiguitätstolerante Führungskräfte benötigt, die nicht bestrebt sind, Ambiguität zu vermeiden, sondern sie vielmehr suchen, genießen und diese sehr bewusst zu gestalten (Bauer, 2018).
Hruby schreibt diesen Menschen eine hohe kognitive Komplexität bei. Sie zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie über eine „gewisse Struktur“ und über ausreichendes Wissen verfügen. Kognitiv komplexe Menschen suchen nach umfangreichen und neuen Informationen. Sie verbringen viel Zeit damit, die vorhandenen Informationen im gegebenen Kontext zu interpretieren und betrachten diese von unterschiedlichen Dimensionen. Eine hohe kognitive Komplexität kann dazu beitragen, mit Ambiguität besser umzugehen (Hruby, 2014). Es geht hier um ein Innehalten und ein tiefes Nachdenken über die erlebten Zustände. Der Faktor Zeit bekommt für die Bewältigung von Ambiguität eine größere Bedeutung.
Zu demselben Ergebnis kommt der von dem Beratungsunternehmen Profil M und der Hochschule Fresenius publiziert Talent-Klima-Index [TKI]. Der TKI 2024 nennt die Ambiguitätstolerant an dritter Stelle als eine der wichtigsten Kompetenzen von Führungskräften, nach Optimismus, Zukunftsorientierung und einem positiven Umgang mit Veränderungen (Stulle & Beenen, 2024).
5 Über Kohärenz- oder Komplexitätsmaschinen
Aber es darf berechtigterweise gefragt werden, ob Führungskräfte mit diesen Fähigkeiten im System ihrer Organisation über die nötigen Zeitressourcen verfügen, um mit ambigen Zuständen aangemessen umzugehen. Wer sich Zeit nimmt, nachdenkt und mehrere Lösungen integriert, dem wird eventuell zugeschieben, dass er zögerlich sei und sich gerade nicht durch schnelle Entscheidungsfreude auszeichnet.
Vielleicht sollte die handelnden Personen im Wirtschaftssystem auf andere System sehen. So wagt Gutzmer einen Blick auf den Architekten Rem Koolhaas von OMA – Office for Metropolitan Architects und stellt die provokante Frage, ob Manager in diesem Zusammenhang etwas von Architekten lernen.
Architekten, wie Manager waren in der Vergangenheit Kohärenzmaschinen, mit einem allwissenden und vorausschauenden Anspruch zur sicheren Gestaltung einer eindeutigen Welt. Dieser Zustand löst sich aufgrund der zunehmenden Geschwindigkeit bei den vielfältigen und gleichzeitigen Veränderungen aber immer mehr auf (Roth, 2019). Stattdessen ist es dem inhärenten Manager auferlegt, mit den Widersprüchlichkeiten seiner Zeit im Zusammenhang seiner Rolle(n) immer wieder neue und offene Lösungen zu finden (Gutzmer, 2020).
In diesem Zusammenhang können kognitiv flexible und inhärenten Manager sich an den Diagramm-Modellen der Architekten von OMA orientieren. Diese Diagramme, sind ein visuelles Rechenergebnis, welches alle Ergebnisse, Vermutungen und jegliches Wissen im System eines Gebäude integrierte.
Damit werden diese Diagramme ein Kommunikationsmittel zur Erläuterung der ambigen Zustände und integrieren alle vorherrschenden Widersprüchlichkeiten in einem einem System. Es gilt also auch im unternehmerischen Kontext die richtigen Diagramm-Modell zu finden und zu anzuwenden, um sich als Führungskraft in immer komplexeren Kommunikationssituationen sicher zu bewegen.
Die in Unternehmen vorhandene Visions- und Leitbilder oder Führungsleitlinien können hier als Kommunikationsmedien verstanden werden, die entweder von der Geschäftsführung und Führungskräften, der Personalabteilung oder sogar von der Marketingabteilung entwickelt wurden. Diese gut gemeinten Guidelines ähneln - um im Bilder der Architektur zu bleiben - eher den unterschiedlichen Materialien auf einer Großbaustelle: Lose und oftmals nicht integierte Artefakte sind sie, wie hingeworfenen Sandhaufen, die kunterbunten Steinwüsten oder die scharfkantigen gestapelten Metallträger. Es fehlt an einem integrierenden System, welches das ‘Nicht-genau-Wissen’ integriert.
So entwickeln sich Manager zu ambiguitätstoleranten Persönlichkeiten, die nicht bestrebt sind, Ambiguität zu vermeiden, sondern diese suchen, genießen und aktiv gestalten. Manager werden zu „fehlerproduzierenden Ambiguitäts- und Komplexitätsmaschinen“ (Gutzmer, 2020).
6 Über was gilt es nachzudenken
Im folgenden sind vier Bereich mit relevanten Aspekten zur Reflexion über die Ambiguitätstoleranz zusammengefasst. Neben den Führungskräfte sind Teams ebenfalls in der Lage, diese Reflexionsräume zu durchschreiten.
- Handeln
- Strukturelle Faktoren für unser Handeln hinterfragen
- Machtfragen erkennen und verstehen (ggf. verändern und neu gestalten)
- Individuelle Handlungsstrategien kennen, regelmäßig überprüfen und anpassen
- Haltung
- Selbstüberprüfung und -reflexion der eigenen inhärenten Rolle und Persönlichkeit
- Gestaltung einer Prototypenkultur und Reduktion von statuskonstruierenden Wissensansprüchen
- Wahrnehmung
- Überprüfung der Denkprozesse auf individueller Ebene
- Gelassenheit in Führungs- und Visionsprozessen
- Kontext
- Hinterfragen der Beziehungen zur sozialen Umwelt
- Verständnis schaffen für die Art und Weise, wie Erfahrungen erklärt werden
- Widersprüchlichkeit als Element von visionärem Denken und Innovation verstehen
7 Über ein Fazit
Ambiguität ist kein Problem, das gelöst werden kann – sie ist vielmehr ein Zustand, den es zu gestalten gilt. Führungskräfte und Organisationen müssen lernen, Mehrdeutigkeit nicht nur auszuhalten, sondern sie aktiv als Chance für Innovation und Vielfalt zu nutzen. Nur so können sie den Herausforderungen einer immer komplexeren Welt gerecht werden.